Lucie Janik:
Zur Kritik eines bürgerlichen Erziehungsideals.
Rousseau gilt in der pädagogischen Fachwelt als Wegbereiter der wissenschaftlichen Disziplin. Sein neuer Ansatz, den er in seinem Erstlingswerk "Emile, oder über die Erziehung" 1762 vorstellte, erwies sich als ebenso revolutionär wie wegweisend: Maßstab pädagogischen Handelns sei der Mensch selber, und das Kind trage die Voraussetzungen seiner Menschwerdung bereits in seiner Natur. Die daraus abgeleitete Forderung, Erziehung habe sich deswegen an der Natur auszurichten, gilt seither als oberstes Credo der Pädagogik.
Die Autorin zeigt auf, daß die moralische Erziehung nach Rousseau jedoch nicht die Antithese zur "schwarzen Erziehung" der Einschüchterung, sondern deren alternative Durchsetzungsvariante darstellt. Um nach seinen Vorgaben auf den Willen des Zöglings einzuwirken, bedarf es eines ganzen Arsenals an Erziehungstechniken, denn der von Rousseau eingeführte Begriff der "negativen Erziehung" ist keinesfalls mit Abwesenheit vom praktischen Erziehungshandeln oder mit der Negation der Manipulationsintension zu verwechseln.
Auch wird beantwortet, warum Rousseau von Vertretern unterschiedlichster und mitunter sogar sich widersprechender - beispielsweise wertkonservativer und reformpädagogischer - Ansätze fachlich wertgeschätzt wird und insofern besprochen, wie "der große Genfer" die zentralen Ideen der bürgerlichen Pädagogik schon zu Beginn der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft entwckelte.